In „Haare auf Krawall“ erzählen Fußballfans, Punks und Hausbesetzer über ihren jugendlichen Alltag in den letzten DDR-Jahren – und wie sie im Realsozialismus aneckten. Das überarbeitete und erweiterte Buch ist auch in seiner vierten Auflage aktueller denn je.
Chemie in den Achtzigerjahren. Die großen Triumphe sind lange vorbei, die Höhepunkte verlagern sich zusehends auf das Geschehen neben dem Spielfeld. Die DDR geht allmählich auf ihr Ende zu, aber wer hätte das damals schon geahnt. Ray, Jahrgang 1963, sehnt sich in diesen Jahren nach Freiraum und hat so den Weg zum Leutzscher Fußball gefunden. Chemie dominierte damals in seiner Wahrnehmung die Jugendkultur, „ob in den Dorfdiscos am Rande Leipzigs, auf öffentlichen Klos oder auf Schulbänken, überall begegnete man Chemie“. An sportlichen Erfolgen dürfte das weniger gelegen haben, schließlich wurde Oberliga-Fußball in Leutzsch immer mehr zur Ausnahme. Chemie musste sich zunehmend in der zweitklassigen Liga durchschlagen, und das war durchaus wörtlich zu nehmen. „Überall waren es die interessanten Typen mit den langen Haaren, den Tätowierungen und den lockeren Fäusten, die die heiligen DDR-Symbole beleidigten und derbe Chemielieder grölten.“
Was Ray anzog, eilte Chemie als Ruf voraus. Die Fans galten gemeinhin bestenfalls als jugendlich verirrte Chaoten, der SED-Staat sah in ihnen regelmäßig „subversive Elemente“. Im Leutzscher Stadion waren Vertreter der ansonsten allgegenwärtigen Staatsmacht „unerwünschte Außenseiter, Zaungäste. Feinde. Hier galten die Gesetze des Alltags nicht mehr.“ Ray hat seine Erinnerungen an diese verrückten Jahre aufgeschrieben. In dem Buch „Haare auf Krawall“ ist der Fankultur bei Chemie in der DDR-Spätphase ein ganzes Kapitel gewidmet. Aber Fußball ist nur ein Thema unter vielen, wie der Untertitel „Jugendsubkultur in Leipzig 1980 bis 1991“ deutlich macht. Es geht um Punks, Hippies, Friedensbewegte, Beatniks, Grufties, Hip-Hopper und Skins, die ihre jeweils eigene Geschichte erzählen. „Haare auf Krawall“ bietet intime Einblicke in die subkulturelle Rebellion im Leipzig der späten DDR und ist jetzt in einer vierten, überarbeiteten und erweiterten Auflage erschienen. Der Titel ist programmatisch – das Äußere war Erkennungszeichen und Unmutsbekundung zugleich. Jedenfalls ein Politikum, mitunter ein oppositioneller Akt. Auch bei Chemie: Im Stadion trug man die Haare bevorzugt lang, schon allein deshalb, weil sich die alten Männer in der Staats- und Parteiführung so herrlich daran störten.
30 Jahre nach der politischen Einheit hat „Haare auf Krawall“ nichts an Aktualität verloren. Im Gegenteil. Noch immer wird intensiv um Deutungshoheit gerungen, was das Leben in der DDR angeht, das sich in der öffentlichen Aufarbeitung nach wie vor hauptsächlich in Stasi-Geschichten oder ostalgischer Verklärung erschöpft. Heute wird vielfach beklagt, dass der Osten nach 1989 politisch kolonialisiert und wirtschaftlich demontiert wurde. Die Debatte hat sich mittlerweile derart verselbstständigt, dass der in der in Ostdeutschland wurzelnde Rechtsextremismus nur zu gerne als Abwehrreaktion auf eine tatsächliche oder vermeintliche Unterdrückung der Ex-DDR-Bürger verniedlicht wird. Ja, nach 1989 ist vieles schiefgelaufen, nicht nur bei der Treuhand, und einiges läuft noch immer schief. Aber das populäre Narrativ von den Opfer-Ostlern nimmt die Menschen aus der Verantwortung, für das geradezustehen, was sie tun oder eben nicht tun. Und hier bietet „Haare auf Krawall“ neue Denkanstöße, indem es Menschen berichten lässt, die sich eben nicht damit abfinden wollten, ein realsozialistisches Musterleben zu führen, sondern nach geistigen und physischen Auswegen suchten. In den gesamtgesellschaftlichen Erinnerungen an die „Friedliche Revolution“, die „Wende“ und die „Heldenstadt“ Leipzig, die im Buch konsequent in Anführungszeichen gesetzt werden, gehen diese Aspekte weitgehend unter. „Haare auf Krawall“, erstmals 1999 erschienen, gibt jenen eine Stimme, die bislang ungehört blieben. Die Autoren schreiben der Leipziger Jugendbewegung der Achtzigerjahre einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung zu, die später mit Zehntausenden Demonstranten auf dem Ring ihren Höhepunkt nahm und letztlich die Mauer zum Einsturz brachte.
Das mag etwas hochgegriffen klingen, wenn Ray davon erzählt, wie die Chemie-Fans „grün-weiß behangen, lärmend und randalierend“ durch die Straßen realsozialistischer Kleinstädte marodierten und sich darin gefielen, sich durchgehend danebenzubenehmen. Anfeindungen und Aggressionen verkamen zum Selbstzweck, die Fans pflegten und feierten ihr Anderssein. Und sie wähnten sich ja auch zurecht auf der Seite der Unterlegenen und Unterdrückten, wurde Chemie doch gegängelt, wo es nur ging. Und das schweißte zusammen. Ray berichtet von einer bedingungslosen Verschworenheit, nicht nur unten den Jugendlichen, sondern der gesamten Anhängerschaft. „Es war reiner Fanatismus.“ Wer sich fragt, woher der Begriff „Leutzscher Hölle“ kommt, findet in „Haare auf Krawall“ die Erklärung:
Die Spieler der Gegenmannschaften waren Feinde und wurden beworfen, bespuckt und beleidigt, wobei besonders gelungene Bösartigkeiten ordentlich Applaus erhielten. Am Dammsitz, der Längsseite des Spielfeldes, gingen über die volle Spielzeit ganze Trauben von Männern mit dem Linienrichter mit, beschimpften ihn ununterbrochen und drohten ihm mit Fäusten, Fahnenstangen und Regenschirmen.
„Haare auf Krawall“, Seite 84
Und das Politische schwang immer mit. Gegenspieler wegen der Trikotfarbe als „Rote Sau“ zu beschimpfen, war eine größtmögliche Provokation gegen den SED-Staat, die in der Anonymität des Stadions ungeahndet blieb – und der Öffentlichkeit verborgen, weil das Staatsfernsehen den Ton abdrehte. Auf den Rängen wurde Fußball schnell zur Nebensache, es ging immer auch um den Kampf zwischen denen „unten“ und den „Mächtigen da oben“. Für die Jugendlichen war das Stadion ein „faszinierendes Experimentierfeld für das eigene Verhalten und die Reaktionen der Staatsmacht“. Und die war, so schreibt Ray, meist überfordert und hilflos, zum Zusehen verdammt.
Ray hat noch so viel zu erzählen, er macht das in dem Buch, das er gemeinsam mit Connie Mareth herausgegeben und im Backroad Diaries Verlag von Chemie-Chronist Jens Fuge veröffentlicht hat. „Haare auf Krawall“ ist gerade deshalb lesenswert, weil es auch um Fußball geht, aber eben nur am Rande. Die 55 Kapitel handeln von Wehrdienstverweigerung und Verhaftung, Musik und Demos, Hausbesetzungen und alternativen Kulturprojekten. Zwischen den persönlichen Erlebnisberichten sind Kapitel eingeschoben, in denen die große und kleine Politik abgehandelt wird, mal in nüchternem, mal sarkastischem Ton. Die Schilderungen, angereichert mit 150 Fotos, sind Dokumente aus einer anderen Zeit, die aber auch ungelernte DDR-Interessierte verstehen. Die Autoren haben ein umfangreiches Band-, Personen- und Sachregister angehängt, von Amor & die Kids über Thümi bis zur Berliner Zionskirche. Wer die ganze Geschichte wissen möchte, muss „Haare auf Krawall“ lesen.
Connie Mareth und Ray Schneider: Haare auf Krawall. Jugendsubkultur in Leipzig 1980 bis 1991. Vierte, überarbeitete und erweiterte Auflage. Backroad Diaries Verlag, Leipzig 2020. 352 Seiten. ISBN 978-3-9816023-9-5. 25,90 Euro. www.backroad-diaries.de
HIPPIES IN DER DDR
Es war’n die wilden Siebziger Jahre,
Als wir hatten noch allzuviel Haare;
Blueser und Tramper, immer auf dem Pfad,
Hippies im Arbeiter – und Bauernstaat.
Jesuslatschen oder Kletterschuhe,
Blue Jeans, Parka und immer die Ruhe;
So ging’s am Wochenende in die Spur,
Musik und Freiheit das Ziel jeder Tour.
Man lauschte intensiv Freygang bis Renft,
Die Plätze vor der Bühne stets umkämpft.
Der Alkohol war immer mit im Spiel,
Man rauchte Karo und trank vielzuviel.
In den Fünfzigern kam der Rock’n’Roll,
Was Eltern schockte, fanden Teenies toll.
Die Sechziger brachten die Beatmusik,
Flower Power führte ins Hippie-Glück.
Im Osten war die Musik Klassenkampf,
Man machte Rockgruppen gehörig Dampf.
Sie galten als westliche Sendboten,
Restriktionen und Auflösung drohten.
Auch Ost-Hippies verehrten Blues und Rock,
Blickten sehnsüchtig aufs ferne Woodstock.
Stets im Visier von Stasi und Staatsmacht,
Pflegte man auch hier Liedgut und Haarpracht.
Man besorgte sich eine Gitarre,
Wollte niemals tragen eine Knarre,
Hasste Uniform und Kasernenmief,
Give Peace a Chance war immer Leitmotiv.
Urige Songs von den Doors bis Neil Young
Setzten Lust und Endorphine in Gang.
Wir sahen Modesünden, manchen Tick,
Was bleiben wird, ist die feine Musik.
Rainer Kirmse , Altenburg
Herzliche Grüße aus der Skatstadt
Die alte BSG bis zur Wende war OK. Dann ging die Antifascheisse los. Geh nicht mehr hin,ist mir zu politisch.
Manche Probleme erledigen sich von selbst.